Günter Umbreit – Stadtplan-Porträts

Günter Umbreit

Stadtplan-Porträts

8. Oktober bis 31. Dezember 2018

Eröffnung in Anwesenheit des Künstlers am Montag, den 8. Oktober um 20 Uhr

Einführung von Diethelm Kaiser

Sie sind herzlich eingeladen! Der Eintritt ist frei!

 

 

Nachlese zur Vernissage vom 8. Oktober 2018

 

Previous Image
Next Image

info heading

info content


 

Ein bunt gemischtes Publikum traf sich zur Vernissage am 8. Oktober in der Buchhandlung. Diethelm Kaiser lenkte in seiner ausführlichen Einführung die Aufmerksamkeit des Betrachters auf die Feinheiten, die verschiedenartigen Materialien und Techniken der Portraits. Günter Umbreit setzt sich intensiv mit den zu portraitierten Künstlern und „ihrer“ Stadt auseinander. Nach Möglichkeit werden zum Beispiel Stadtpläne aus der Epoche verwendet, in der der Portraitierte gelebt hat, um einen authentischen Eindruck wiedergeben zu können. Es lohnt sich, zur Vertiefung den anregenden Aufsatz von Diethelm Kaiser ganz am Ende zu lesen. Man kann sich in diese Stadtplan-Portraits vertiefen und findet immer wieder spannende Details. Beim Betrachten der Arbeiten ergaben sich anregende Gespräche mit dem Künstler und den Besuchern. Die Impressionen von Beatrix Wolff vermitteln einen Eindruck über die gute Stimmung bei der Ausstellungseröffnung.

***

Sie haben sicher schon viele verschiedene Arten von Porträts gesehen. In dieser Ausstellung können Sie eine besondere Porträtgestaltung kennenlernen: Stadtplan-Porträts. Diese Gattung ist eine Erfindung des Künstlers Günter Umbreit.

Die Erfindung der Stadtplan-Porträts

Stadtpläne sind auf Reisen wichtige Orientierungshilfen. Zufällig oder bewusst wandelte ich in europäischen Städten mit ihnen auf den Spuren von Künstlern, Wissenschaftlern oder Musikern. Nehme ich die Redewendung vom „Gesicht einer Stadt“ wörtlich, so werden Straßenzüge zu Gesichtszügen. So fügte sich ein Zusammenhang zwischen dem „Genius Loci“ und der kartographierten Stadtlandschaft. Anfang der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts entwickelte ich eine Serie von „ Stadtplan-Porträts“. Ich begann mit den ausgelobten Kulturhauptstädten Europas. Stadtpläne integrierte ich als innovative Bildelemente in die Antlitze schöpferischer Persönlichkeiten; porträtierte sie ohne karikierende Absicht, verwoben mit den Topografien ihrer Herkunft oder Wirkungsstätten. Die Gesichter entwickelte ich aus der grafischen Struktur der Pläne heraus, nicht nur auf diesen im Sinne von Hintergrund. Dieser „spricht“ entscheidend mit und verwandelt sich perspektivisch, d. h. er wirkt plastisch. So mutiert die städtische Parzelle von oben betrachtet zur Epidermis des Bildes und facettiert das Antlitz. Einstein sagte: „ … das Schönste, was es auf der Welt gibt, ist ein leuchtendes Gesicht.“ (Günter Umbreit 2003)

Günter Umbreit, 1951 in Bad Rothenfelde geboren, 1972 Studienbeginn in Berlin, 1978 Abschluss mit dem Staatsexamen in Kunstpädagogik. Seit 1982 arbeitet er als freischaffender Bildender Künstler, sein Alleinstellungsmerkmal ist 1990 die Erfindung der Stadtplan-Porträts. Hervorzuheben ist das Titelbild Humboldtbrüder (gab es zuvor nicht als Doppelporträt) zum Humboldtjahr 2010 in Berlin. Zahlreiche Einzel- und Gemeinschaftsausstellungen.

Diethelm Kaiser, geboren 1957, studierte Germanistik, Philosophie, Kunstgeschichte und Pädagogik in Bonn. Er war Wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Universitäten Hagen und Bonn sowie Lehrbeauftragter an der Universität Potsdam. Von 2001 bis 2016 arbeitete er als Cheflektor, zuletzt auch als Programmleiter beim Berliner Nicolai-Verlag. Als Autor und Herausgeber hat er diverse Bücher publiziert, unter anderem über Paul Gauguin, das Hotel Adlon und über die Berliner Malergruppe „Die Schule der neuen Prächtigkeit“.

 

 

Rede von Diethelm Kaiser zur Ausstellungseröffnung am 8. Oktober 2018

Günter Umbreit: Stadtplan-Porträts

Mit den sogenannten »Stadtplan-Porträts« setzt Günter Umbreit zwei Elemente, zwei Bereiche in Beziehung, die zusammengehören, sich in vielen Fällen sogar wechselseitig charakterisieren können: Orte und Menschen. Städte bilden Erfahrungsräume, die mit ihrem jeweiligen spezifischen Ambiente zweifellos die Personen prägen, die in ihnen aufwachsen und wohnen. Und es ist ebenso offenkundig, dass Menschen, die in einer Stadt leben und wirken, ihren Teil dazu beitragen, wie sie aussieht, wie sie sich entwickelt, welche Geschichten sich in ihr ereignen, welche Mythen entstehen. Natürlich wird das »Gesicht einer Stadt«, wie man auch gerne sagt, insbesondere von berühmten Personen geprägt, von Künstlern, Musikern, Schriftstellern, Wissenschaftlern, die in »ihrer« Stadt bahnbrechende Entdeckungen gemacht oder große Werke geschrieben, komponiert, geschaffen haben. Manche dieser Verbindungen sind so innig, dass sie untrennbar erscheinen: Kafka ist ohne Prag nicht denkbar und Prag nicht ohne Kafka. Wer Sigmund Freud sagt, verweist zugleich auf Wien, das seinerseits auch als »Stadt der Psychoanalyse« bezeichnet wird. Und Marlene Dietrich bleibt für immer mit Berlin verbunden, obwohl sie weniger als ein Drittel ihres Lebens in dieser Stadt verbrachte.

Günter Umbreit hat diese tief reichenden, weit verzweigten historisch-kulturellen Verflechtungen ernst genommen, und mehr als das, er hat ihnen auf eine ganz eigene Weise Ausdruck verliehen. Die Idee zu den »Stadtplan-Porträts« kam ihm, nach vielen Reisen in europäische Städte, im Jahr 1990: Zunächst erprobte er sie an den zu Kulturhauptstädten Europas ernannten Orte wie Athen, Florenz, Amsterdam – aus naheliegenden Gründen, war es doch auch das erklärte Ziel der Veranstalter, das kulturelle Erbe der solcherart ausgezeichneten Städte vorzustellen und ins öffentliche Bewusstsein zu heben.

Rasch hat Günter Umbreit weitere Städte einbezogen und kontinuierlich seine Serie ausgebaut: Die hier gezeigten Werke stammen aus den Jahren 1992 bis 2013, und auch gegenwärtig entstehen neue Bilder. Das – freilich vielfältig variierte – Grundprinzip ist die Integration von Stadtplänen in das Porträt einer Persönlichkeit, die repräsentativ ist für die jeweils ausgesuchte Stadt: in das Porträt eines literarischen Autors zum Beispiel, der durch sein Werk die Ansicht einer Stadt neu geprägt und sich damit im buchstäblichen Sinne in ihr Gedächtnis eingeschrieben hat. Thomas Mann etwa ist hier zu nennen mit seinem virtuosen Gesellschaftsroman Buddenbrooks. Verfall einer Familie, der seiner Heimatstadt Lübeck ein durchaus nicht glorifizierendes Denkmal setzt. Oder James Joyce, der in seinem Hauptwerk Ulysses, einem Markstein des modernen Romans, seinen Protagonisten Leopold Bloom auf eine wahre Odyssee durch Dublin schickt.

Für seine Stadtplan-Porträts verwendet der Künstler verschiedenartige Materialien, und er setzt vielfältige Techniken ein. Das eine zentrale Element der Komposition ist eine Fotografie der ausgewählten Persönlichkeit, sie bildet auch den Ausgangspunkt der Bildfindung. Das Pendant dazu und das zweite essentielle Gestaltungsmoment ist in der Regel ein Stadtplan, der in den meisten Fällen in der Zeit produziert wurde, in der die porträtierte Person in der Stadt lebte. Auf diese kartografische Unterlage wird die Fotografie, das Gesicht dieser Person aufgedruckt. Hinzu kommen weitere gestalterische Maßnahmen: Der Bildhintergrund und Körperteile, zum Beispiel Hände, oder Kleidungsstücke der dargestellten Menschen werden mit Pastellstift oder Aquarellfarben ausgefüllt, zum Einsatz kommen außerdem Bleistift oder Tinte, etwa bei Kafkas Haaren; manche Gesichtspartien werden überpastelliert, in einem Fall, bei dem Porträt Edvard Griegs, hat der Künstler auch einen Radiergummi verwendet, um die Konturen des Gesichts herauszuarbeiten. Bei einigen der Bilder sind zusätzliche Materialien integriert, etwa eine Strukturtapete oder ein zu einer Schwalbe gefaltetes Papier – Letzteres passenderweise bei dem Luftfahrtpionier Otto Lilienthal. Bei diesem ist auch kein Stadtplan eingearbeitet, sondern eine Flugkarte. Das Kompositionsprinzip lässt sich also, je nach Kontext, abwandeln oder erweitern. Bei Frédéric Chopin wiederum bildet eine Straßenkarte die Grundstruktur des Gesichts, und die auf dieser Karte deutlich hervortretenden roten Linien, die wie ein Adernetz das Gesicht des Komponisten durchziehen, verweisen zusammen mit dem weißen Grundflächen auf die (weiß-rote) Nationalflagge Polens.

Entscheidend ist bei all dem immer: Die topografischen Karten sind mehr als nur ein bloßer Hintergrund, ihre Figurationen – jeder Stadtplan, daran sei erinnert, ist ja selbst schon eine abstrahierende, stark vereinfachende Zeichnung – werden vielmehr in den Gesichtern zu bedeutungsvollen Signaturen: Markante Details in der Karte heben den ein oder anderen Gesichtszug hervor, beeinflussen auf diese Weise den Ausdruck der Gesichter: Breite Straßen verstärken zum Beispiel die horizontalen Falten auf der Stirn Tschechows; der um die Innenstadt Roms führende Autobahnring, der auf dem Stadtplan-Porträt der italienischen Schauspielerin Giulietta Masina um ihren Mund herum verläuft, prononciert ihre clowneske Seite; und die Mäander, die der Fluss Adige (Etsch) im Zentrum Veronas beschreibt, zeichnen in das Gesicht von Maria Callas kühne Bögen von geradezu musikalischer Dynamik – welche ihre Fortsetzung in dem »Echoraum« findet, der durch die ihren Kopf einrahmenden Linien angedeutet wird.

Selbstverständlich sind die für die dargestellten Personen wichtigsten Orte in »ihrer« Stadt in dem abgebildeten Ausschnitt häufig enthalten. So etwa die Berggasse 19 in Wien, wo einst die berühmte Couch des Dr. Freud stand, oder jener Teil von Schöneberg, wo sich der Friedhof befindet, auf dem Marlene Dietrich ihre letzte Ruhestätte gefunden hat.

Wie sich all dieses, die verschiedenen Techniken und Materialien, die Gesichter, Orte, Informationen, die grafischen Muster und Farben, zusammenfügt, das ist, darauf weist Günter Umbreit mit Nachdruck hin, nie geplant, sondern Ergebnis eines künstlerischen Arbeitsprozesses – der zu einem glücklichen Ende, aber auch in ein Scheitern führen kann. Jeder Anlauf zu einem neuen Bild ist ein kreatives, aber auch ein technisches Experiment.

Aufgrund seiner vielfältigen Ausbildungen und Werkerfahrungen ist Günter Umbreit geradezu prädestiniert, sich auf solche Experimente einzulassen. Sein Studium der Kunstpädagogik hat er 1978 mit dem Staatsexamen abgeschlossen, seit 1982 ist er als freischaffender Bildender Künstler tätig. Mit Radierungen hat er sich im Atelier »Freie Galerie« in Frohnau ausführlich beschäftigt (2000–2005), mit Lithografien in der »Werkstatt für künstlerische Lithografie Berlin« (2010) gearbeitet. Die Grafikmappen, die er in den Jahren 2004 bis 2007 anfertigte, tragen nicht von ungefähr die Titel »Tradition und Experiment«. Seit den 1990er Jahren hat er in vielen Berliner Galerien und Museen ausgestellt, aber auch außerhalb Berlins, so in der Viadrina in Frankfurt/Oder. Zum Humboldtjahr 2010 in Berlin steuerte er als Titelbild für die einschlägige Publikation das Stadtplan-Porträt »Humboldtbrüder« bei.

Ich komme zum Schluss: Das Porträt soll in der Darstellung der äußeren Erscheinungsform eines Menschen seine Persönlichkeit oder auch seinen Charakter, jedenfalls etwas ihm Wesentliches wiedergeben – so oder ähnlich wird das Porträt in der Kunstgeschichte definiert. Es soll also etwas zeigen, das jenseits des bloß Äußeren liegt, sich gleichsam hinter der Oberfläche befindet. Das Relationale, die Bezüglichkeit ist ein fundamentales Merkmal des Porträts. Entsprechendes lässt sich vom Gesicht sagen: Seine Faszination besteht darin, dass es auf etwas verweist, das über es hinausreicht. Das kann ins Unabsehbare, ins Abgründige führen – in seinem Werk Mythen des Alltags schreibt Roland Barthes über »Das Gesicht der Garbo«: »Greta Garbo gehört noch zu jenem Augenblick in der Geschichte des Films, da das Erfassen des menschlichen Gesichts die Massen in die größte Verwirrung stürzte, da man sich buchstäblich in einem menschlichen Abbild verlor wie in einem Liebestrank […]«

Auch Günter Umbreit ist sich dieses vieldeutigen, oftmals rätselhaften Charakters des menschlichen Antlitzes bewusst, aber er zieht daraus eine andere Konsequenz als Roland Barthes. In seinen Stadtplan-Porträts, die, das sei noch einmal betont, seine originäre Erfindung sind, setzt er nicht auf Verwirrung, sondern auf Orientierung. Aber, und das ist entscheidend, er legt den Betrachter dieser Bilder auf nichts fest, er eröffnet vielmehr einen weiten Spielraum historischer, kultureller, künstlerischer Bezüge. Damit unternimmt er nicht nur eine Tour dʼHorizon durch die europäische Geistes- und Stadtgeschichte, sondern ergänzt auch die Gattung des Porträts durch ein neues Genre.

© 2018 Diethelm Kaiser